„Videospiele lehren, dass man aus Fehlern lernen und sich immer wieder selbst übertreffen kann“
In der Welt der Videospiele weiß Baltasar Fernández Manjón, wo man die versteckten Fenster, Extraleben und Abkürzungen findet, um ans Ziel zu kommen. Er ist Professor an der Complutense-Universität Madrid (UCM) und befasst sich schon seit Anfang der 1990er-Jahre mit Unterrichtstechnologien und Videospielen zu Unterrichtszwecken, die er auch selbst entwirft. Heute leitet er die e-Learning Group der UCM, wo er Software, Apps und Videospiele aller Art entwickelt. Außerdem ist er an zwei der ehrgeizigsten europäischen Projekte beteiligt, die sich mit dem Einsatz von Videospielen für Unterrichtszwecke befassen, nämlich RAGE und BEACONING aus dem Programm „Horizont 2020”.
Wir bei Gamelearn hatten die Gelegenheit für ein Gespräch mit Baltasar Fernández Manjón, und dabei informierte er uns über den Stand des Game-based Learning, die Entwicklung dieser neuen Branche und darüber, welche Vorteile Videospiele für den Lernprozess haben.
– Viele sind nach wie vor der Meinung, dass Videospiele nur zur Unterhaltung von Jugendlichen dienen. Aber wozu kann man Videospiele sonst noch verwenden?
Zunächst einmal sollte man einige Vorurteile ausräumen. Erstens sind es nicht nur die Jugendlichen, die spielen. Tatsache ist, dass das Durchschnittsalter der Videospieler bei 35 Jahren liegt. Wir sprechen also nicht nur von Jugendlichen.
Zweitens handelt es sich hier um eine bedeutende Industrie. Man spricht immer von der Filmindustrie. Aber im Vergleich ist der Erlös der Videospielbranche doppelt so hoch. Es ist eine weltweite Industrie, und hier kann man auch ohne die ganze Infrastruktur, die die Filmindustrie braucht, wettbewerbsfähig sein.
Wir haben also: Einerseits eine bedeutende Industrie und andererseits die Tatsache, dass unsere Teenager und unsere Kinder damit spielen. Warum sollten wir diese Tatsache nicht nutzen, um ihnen etwas beizubringen? Beispielsweise haben Kinder, denen es sonst schwerfällt, sich auf etwas zu konzentrieren, mit einem Spiel, das sie interessiert, kein Aufmerksamkeitsdefizit, denn sie spielen ja. Warum also versuchen wir nicht, Spiele zu entwickeln, bei denen sie wirklich etwas lernen können?
Ich habe sogar eine noch radikalere Zukunftsvision: Ich glaube, Videospiele sind in gewisser Weise die neue Literatur. Warum sollten wir unsere jungen Leute nicht zu solchen Videospielen hin orientieren, die ihnen kulturelle und soziale Werte vermitteln? Es geht nicht immer nur darum, Monster zu töten.
– Welche Vorteile hat also das Game-based Learning?
Nun, ich könnte Ihnen z. B. von einem Experiment berichten, das wir gerade heute durchführen. Wir haben ein Videospiel entwickelt, mit dem die jungen Leute lernen sollen, wie man bei einem Notfall reagiert: Es handelt sich um ein Videospiel über erste Hilfe. In einer Schule in Madrid bringen wir allen Schülern zwischen 12 und 16 Jahren in der Grund- und Mittelstufe diese Techniken bei. Normalerweise sollte man zu diesem Zweck medizinisches Personal in die Schule bringen, mit einem Versuchsdefibrillator, einer Übungspuppe – das wäre ideal. Aber das macht man eben nicht. Warum? Weil es sehr teuer ist.
In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Lehrtechniken in Aragonien und dem Miguel-Servet-Krankenhaus haben wir ein Videospiel entwickelt, das zwar keine so gute Lehrtechnik bietet wie die Übungspuppe und der Defibrillator, das jedoch durchaus seinen Zweck erfüllt. Jetzt können wir endlich in eine Schule gehen und dort die Schüler zwischen 12 und 16 Jahren in erster Hilfe unterweisen; dabei sprechen wir von Schulungen für 200 Kinder an vier Vormittagen. Mit sehr begrenzten Kosten. Und die Teenager erwerben Grundkenntnisse in erster Hilfe.
Das Problem ist natürlich, dass Videospiele ihren Preis haben. Aber wenn es das Spiel erst einmal gibt (in diesem Fall wurde die Entwicklung mit öffentlichen Mitteln finanziert), kann man es immer wieder verwenden, und es steht jeder Schule auf Wunsch zur Verfügung. Mit anderen Worten, die Idee kann auf viele Schulen erweitert werden, ohne die Kosten zu steigern.
– Einer der Vorteile, der im Zusammenhang mit Game-based Learning immer wieder erwähnt wird, ist die Motivation, die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Schüler auf Dauer zu wecken.
Ja, aber ich glaube, dass man hier auch genau sein muss. Diese ernsthaften Spiele, die eher einen Bildungshintergrund haben, machen nicht so viel Spaß wie die Spiele, mit denen sie normalerweise spielen. Ich sage jedoch immer, dass sie auch unterhaltsam sein müssen, dass sie das Interesse aufrechterhalten müssen. Und vor allem müssen sie eine ansprechende Wirkung haben: Im Vergleich zu einer passiven Videovorführung bietet ihnen ein Videospiel die Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen.
Außerdem ist das Videospiel streng. Man gewinnt nicht immer. Das Videospiel sagt dem Spieler, wenn er etwas falsch macht. Und dennoch akzeptieren die Kinder das als Herausforderung und sind bereit, darauf einzugehen. Auch wenn der Schulunterricht derzeit vielleicht zu sehr darauf ausgerichtet ist, alle negativen Aussagen zu vermeiden, akzeptiert das Kind einen Fehlschlag auf natürliche Weise und wird dadurch motiviert, sich zu bessern und mehr zu lernen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass dieses Videospiel über erste Hilfe zwar individuell gespielt wird, aber in der Klasse eine sehr interessante Wettbewerbsdynamik entsteht. Auf einmal sagt einer: „Gut, ich habe ihn gerettet! Ich habe 8 Punkte bekommen!” Und der andere meint: „Meiner wird rot angezeigt. Ich habe 2 Punkte!” Und damit entsteht eine sehr persönliche Motivation, es besser zu machen. Dabei geht es gegen keinen anderen. Es geht nur gegen einen selbst. Man will besser werden. Man will sich aus eigenen Mitteln verbessern.
Mit anderen Worten, was lehren uns Videospiele? Sie lehren Ausdauer. Videospiele lehren, dass man aus Fehlern lernen kann und dass man sich immer wieder selbst übertreffen kann; dass man es besser machen kann, wenn man sich anstrengt. Was wollen wir mehr?
– Häufig werden Videospiele mit antisozialen und gewalttätigen Verhaltenstrends in Verbindung gebracht. Aber können Videospiele nicht auch solidarische und sozial positive Verhaltensweisen fördern?
Ja. Tatsächlich geht es bei einem der Videospiele, die wir gerade entwickeln, um Cyber-Mobbing (Mobbing in der Schule mit technologischen Mitteln). Das ist unter unseren Jugendlichen ein sehr schwerwiegendes Problem. Sie verwenden Technologien in einer sehr anomalen Weise: Sie verstehen nicht, dass das, was sie mit WhatsApp oder in sozialen Netzwerken schreiben, zwar vielleicht ein Scherz ist, aber ein Scherz, der immer bleibt. Oder dass ein mündlich geäußerter Witz, der seinen Kontext hat, nicht dasselbe ist, wie diesen Witz aus dem Zusammenhang zu reißen und in soziale Netzwerke zu stellen, wo er dann als Aggression oder etwas sehr Negatives erscheinen kann, was wahrscheinlich gar nicht die Absicht war.
Dementsprechend entwickeln wir also ein Spiel über Cyber-Mobbing, damit die Kinder verstehen, welche Folgen ihre Handlungen haben, welche Konsequenzen ihre Aussagen im digitalen Raum haben können – und dabei geht es nicht nur darum, dass sie etwas lernen, sondern wir möchten auch Gefühle ansprechen. Dass sie genau verstehen, wie sich das Opfer und wie sich der Täter fühlt. Und dass sie dabei etwas lernen.
In diesem Jahr nehmen wir konkret an so interessanten Initiativen wie Hack For Good teil, wo Techniker, Designer und Aktivisten zusammenkommen, um gemeinsam zwei Tage lang Lösungen für soziale Probleme zu suchen, die von Nichtregierungsorganisationen, Patientenvereinigungen, öffentlichen Einrichtungen oder Lehranstalten aufgeworfen werden können.
Daneben arbeiten wir gerade an einem Videospiel über aktives Altern, das z. T. vom Lehrstuhl Telefónica Complutense für Seriöse Spiele finanziert wird. Dieses Thema steckt noch in den Kinderschuhen, aber es gibt weltweit sehr interessante Initiativen, bei denen untersucht wird, wie man Videospiele auch für Senioren einsetzen kann. Beispielsweise gibt es da die Exergames, mit denen erreicht werden kann, dass auch ältere Menschen zuhause Gymnastikübungen machen können, statt zu einem Physiotherapeuten zu gehen.
– Sie haben angefangen, sich mit diesen Themen zu befassen, als es noch absolute Minderheitenthemen waren, beinahe schon etwas Exzentrisches. In den letzten Jahren war das Wachstum des Game-based Learning spektakulär. Wie haben Sie diese Veränderung der Branche erlebt?
Nun, ich glaube, der Markt ist immer noch nicht ausgereift. Aber es gibt immer mehr Interesse und vor allem mehr Finanzierung. Wir erreichen allmählich einen Punkt, an dem es Informatikstandards gibt; und jetzt ist der Moment gekommen, in dem auch die Investitionen anlaufen. Wirksamkeit und Produktivität wurden bereits unter Beweis gestellt, und man könnte sagen, es fehlt nur noch ein ganz kleiner Schritt, bis der Markt etwas reifer ist.
– Welche Bereiche sind beim Game-based Learning führend? Wo wird es am meisten eingesetzt?
Die drei wichtigsten Bereiche sind diejenigen, in denen am meisten investiert wird. Die erste ist die Militärindustrie, in einigen Fällen auch mit vollkommen ziviler Nutzung. Beispielsweise gibt es Videospiele, mit denen Vorurteile vermieden werden sollen, wenn man jemanden wegen seiner Rasse oder Religion beurteilt. Dies ist für den militärischen Nachrichtendienst sehr wichtig, damit man dort in der Lage ist, die eintreffenden Daten gut auszuwerten.
An zweiter Stelle befindet sich der medizinische Bereich. Wir haben mit dem General Hospital of Massachusetts und der Harvard-Universität zusammengearbeitet. Mithilfe von Videospielen können wir denselben Schulungsprozess für Zytopathologie (Untersuchung und Diagnose von Erkrankungen im Zellularbereich), der in Harvard benutzt wird, in einem Entwicklungsland mithilfe von Tablets für 50 Euro verbreiten. Dies ist besonders dann wichtig, wenn es nur wenig medizinisches Personal gibt oder Ärzte aufgrund eines Notfalls (wie beispielsweise im Fall von Ebola) evakuiert werden müssen.
Und drittens wäre der Unternehmensbereich zu erwähnen. In Unternehmen wird die Produktivität mithilfe von Videospielen gefördert, so wie das konkret der Fall von Gamelearn beweist.
In diesen drei Bereichen wird Gambe-based Learning am häufigsten verwendet. Warum? Hauptsächlich deshalb, weil hier am meisten Geld vorhanden ist.
Derzeit wird Game-based Learning auch im Bildungswesen eingeführt. Aber hier liegt das Problem darin, dass der Markt, insbesondere in Europa und noch viel mehr in Spanien, sehr fragmentiert ist. Für die Spiele ist eine gewisse Anfangsinvestition erforderlich, und in vielen Fällen kann nicht der Mindestbetrag aufgebracht werden, der erforderlich ist, damit die Spiele so hochwertig und effektiv werden, dass man sie in Schulen einsetzen kann. Aber es gibt allmählich einige ziemlich interessante Fälle.
– Sie haben die Bedeutung von Videospielen für die Unternehmensschulung erwähnt. Wie kann Game-based Learning in der Geschäftswelt hilfreich sein?
Derzeit besteht sehr viel Interesse an Gamification. Alle Unternehmen sind sehr daran interessiert, Spielestrategien bei Prozessen einzuführen, die nichts mit Spielen zu tun haben. Ich glaube, das ist der erste Schritt.
Viele andere haben sich direkt darauf konzentriert, Spiele zur Lösung von Problemen zu entwickeln, die in anderer Form nur sehr schwer lösbar sind. Hier ein Beispiel: Wie kann man Kommunikationsprobleme in einem multikulturellen Unternehmen lösen? Vieles kann man nur schwer verstehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat, und Videospiele können einen in eine bestimmte Situation versetzen und dazu zwingen, in sehr kurzer Zeit eine wirksame Entscheidung zu treffen.
– Anfangs haben manche Leute noch nicht an Videospiele als Lernmittel geglaubt. Seit einigen Jahren geht es nicht mehr um die Frage, ob Videospiele verwendet werden sollen oder nicht, sondern wie. Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Elemente, die ein seriöses Spiel haben sollte?
Nun, wenn ich das Geheimnis kennen würde, müsste ich wahrscheinlich nicht mehr an der Universität unterrichten, sondern ich wäre reich [lacht]. Ich glaube, das Geheimnis ist eine ernsthafte wissenschaftliche Fokussierung. Wir lassen die Spiele in realen Umfeldern einführen und bewerten. Im Grunde genommen kann man ein gutes Spiel nur entwickeln, indem man aus seinen Fehlern lernt. Man entwickelt ein Spiel, probiert es aus, wertet es formal aus und stellt fest, was funktioniert und was nicht. Dazu geht man interaktiv vor, und am Ende hat man ein gutes Spiel. Uns ist keine andere Methode bekannt.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Geschichte. Wir entwickeln Spiele, die im Wesentlichen erzählerischer Art sind. In unserer Überlieferung, die zunächst mündlich und dann schriftlich weitergegeben wurde, erinnern wir uns sehr gut an die Geschichten, aber sehr schlecht an die Daten. Wir haben immer das Ziel, dass die Geschichte von Bedeutung und interessant ist. Wenn in einem Spiel die Hintergrundgeschichte gut ist, wird es Erfolg haben. Man wird dabei Entscheidungen fällen müssen, aber man erinnert sich daran und lernt daraus.
Und selbstverständlich muss das Spiel, sagen wir, vielleicht nicht unbedingt Spaß machen (denn der Spaß ist ein Prozess, der in unserem Kopf stattfindet), aber es muss interessant sein. Es gibt nichts Schlimmeres als ein langweiliges Spiel. Wenn das Spiel langweilig ist und sehr teuer war, wird damit das schlechteste Lehrverhalten wiederholt. Das Spiel muss unterhaltsam sein und motivieren.
– Zum Abschluss möchten wir Sie ein bisschen in Verlegenheit bringen. Welche ernsthaften Spiele halten Sie persönlich für die besten?
Das ist eine schwierige Frage.
Ich persönlich probiere gerne diese Lernspiele bei meinen eigenen Kindern oder meinen Studenten aus. Eines der Spiele, die mir beispielsweise sehr gut gefallen, ist Treefrog Treasure, bei dem es um einen Frosch geht, der Bruchrechnung unterrichtet. In der Welt des Spiels muss man Ketten sprengen, und dazu muss man bruchrechnen können, man muss wissen, was ein Prozentsatz ist. Und es ist seltsam: Ich habe das Spiel meiner Tochter gezeigt, die in der Schule noch keine Bruchrechnung hatte, und sie ist begeistert. Damit kennt sie jetzt schon ganz zwanglos das Konzept der Bruchrechnung. Mit anderen Worten, es funktioniert.
Unter den Spielen, mit denen man programmieren lernt, gibt es z. B. eines, das Code Combat heißt. Darin muss man mit einer Figur in einem Videospiel Codebausteine einsetzen. Dieses Spiel nutze ich mit meinen Masterstudenten. Ich muss Studenten, die noch nie programmiert haben, in 40 Stunden das Programmieren beibringen. Und dieses Spiel motiviert sie.
Ein weiteres Spiel, das eine Mischung aus ernsthaftem Spiel und Gamification darstellt, könnte Duolingo sein. Bei Jugendlichen haben wir ein großes Problem, wenn es um das Vokabellernen geht. Nun, mit Duolingo kann man das lösen. Es ist nicht unbedingt ein Spiel, aber sie sehen es manchmal als solches an. Wir versuchen, aus diesen Spielen zu lernen und Elemente daraus wiederzuverwenden. Und ich bin dabei, damit mein Portugiesisch zu verbessern. Außerdem enthält diese Anwendungsumgebung eine Funktion für den Unterricht, mit der man mithilfe von Techniken den Lernprozess analysieren und herausfinden kann, wie und wie viel die Teilnehmer lernen. Dieses ist eines der Forschungsthemen, an denen wir derzeit arbeiten.
Schreibe einen Kommentar